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Alles hat seine Zeit.

Moritz stapft mit seiner Grossmutter durch das verschneite Bergdorf. Sie ist unsicher auf den Beinen, trippelt, bleibt stehen, zögert, nicht nur wegen dem gefrorenen Boden. Trotz ihrer Gehhilfe, einem eleganten Stock, hängt sie schwer im Arm ihres Enkels. Obwohl sie jede Wegbiegung, jede Unebenheit kennt, ist die Wegstrecke von der Wohnung zur Bäckerei für sie lang. Dennoch bleibt sie „die grande dame“, aufrecht und selbstbewusst. Zu Moritz sagt sie: „Wer fünfundachtzig Jahre alt ist, hüpft nicht mehr über Stock und Stein.“

Die beiden bewegen sich langsam vorwärts. Moritz, im Bekanntenkreis bekannt als einer, der schneller ist als andere, kennt eine andere Gangart. Als Snowboardfahrer und Skifahrer liebt er das Abenteuer, zudem werden von ihm, dem Informatik-Spezialisten, rasche Entschlüsse verlangt. Er ist ein Teufelskerl, dem vieles leichter fällt als anderen. Neben der alten Frau wirkt er gross und energiegeladen im schwarzen Kapuzenmantel, die Verkörperung von Jugend und Kraft. Mit dunklen Augen schaut er keck in die Welt, die modische Frisur verleiht seinem Gesicht etwas Pfiffiges. Die Grossmutter und er sind das Gegenteil voneinander, aber eine bestimmte Würde des Auftretens, eine bestimmte Art Nonchalance, ist beiden eigen.

Von Moritz wird heute Langsamkeit gefragt, das Gemächliche dieser Stunde macht ihm nichts aus. Heute hat er Zeit, am übernächsten Morgen will er nach New York fliegen. Er mag seine Grossmutter, unzählige Male war er bei ihr in den Ferien, sie hat für ihn sein Lieblingsessen gekocht, und als er klein war, führte sie ihn an der Hand. Heute redet sie ohne Unterlass, macht Moritz auf dies und jenes aufmerksam, auf das quirlige Leben im Dorf, auf eine Frau mit einem roten Hut, sie plappert wie ein Kind. Zudem stellt sie unzählige Fragen. Warum erstellen diese Männer Holzgerüste? Etwa für die Skimeisterschaften? Für was? Sie erzählt Geschichten, von einem alten Mann, der mit seinem Sohn, der auch schon alt ist, zusammen lebt. Moritz hört anfänglich zu, bald kann er den Gedankengängen seiner Grossmutter nicht mehr folgen. Er stützt die Frau, macht auf Unebenheiten des Bodens aufmerksam, er ist für sie verantwortlich. Für kurze Zeit.

Die Grossmutter will in der Bäckerei Brot kaufen, und weil die gewünschte Sorte nicht vorhanden ist, wird nichts gekauft. Hier gelten andere Sitten als in der Stadt, auch ohne Brotkauf plaudert die Bäckersfrau munter drauflos, Dorfneuigkeiten werden ausgetauscht. Moritz wundert sich, welche Bedeutung kleinste Ereignisse haben. Die Nachbarin fuhr nach Mallorca, die Rentner treffen sich neuerdings nicht mehr im „Kreuz“, sondern im „Bären“. Wie klein hier die Welt ist, denkt Moritz. Auf der Rückkehr in die Wohnung ruft die Grossmutter immer wieder: „Pass auf, es ist eisig, es ist gefährlich!“, dabei steht Moritz sicher auf festen Schuhen. In der Wohnung umfängt die beiden angenehme Wärme, die Grossmutter geht in die Küche, um Tee zu kochen.

Moritz schaut sich um, betrachtet die Möbel, vertraut seit Kindertagen, die Bilder an der Wand, die Nippsachen, die Strohblumen. Da sieht er auf der Kommode ein Bild, das ihn irritiert. Auf einer Foto ist er als Dreijähriger abgebildet, die Grossmutter - als jugendlich wirkende Frau - führt ihn an der Hand. Offensichtlich ist der kleine Moritz unsicher auf den Beinen. Er scheint drauflos zu plappern, wie es Kinder tun, sie neigt sich zu ihm und hört zu. Moritz erinnert sich: An der Hand der Grossmutter erkundete er jeweils das Dorf, in seinen Kinderaugen war es unübersichtlich gross, herrlich und voller Abenteuer. Heute wundert er sich darüber, wie sich die Rollen vertauscht haben: Der Knirps, den die Grossmutter auf dem Bild an der Hand hat, ist heute alt genug, seine Grossmutter durchs verschneite Dorf zu führen. Wie ist diese Welt doch verrückt, geht im durch den Kopf. Alles kehrt sich um, ins Gegenteil, alles wandelt sich, was früher war, ist heute nicht mehr, was heute ist, ist morgen anders. Da beginnt es zu schneien, es schneit in die Gedanken von Moritz hinein. Er schaut ins Schneetreiben, und – halb wach, halb träumend – sieht er im Schnee Gestalten. Eine lange Reihe von Menschen, die langsam vorwärts gehen und im Schneetreiben verschwinden. Dunkel erkennt er den Grossvater, der gestorben ist, die Grossmutter, seine Eltern, er sieht sich selbst als Hinterster einer langen Reihe. Einmal werde ich vorrücken, denkt er, der Schnee wird meine Grossmutter zudecken, dann meine Eltern, dann mich, es ist nicht auszudenken. Der Schnee fällt und fällt. Wie in einem Traumbild bewegt sich eine unüberschaubare Reihe von Menschen im Schneetreiben vorwärts, Schritt für Schritt, und verschwindet im Nichts.

Moritz friert, die Grossmutter bringt Tee und Schokoladekuchen, sie trippelt hin und her, von der Küche in die Stube. Beide wärmen die Hände an der Tasse, schauen zum Fenster hinaus, inzwischen hat das Schneetreiben nachgelassen. Der heisse Kräutertee belebt, der Kuchen ist süss und eigenartig gewürzt. Moritz steht auf und streckt sich, er spürt eine unbändige Kraft in den Gliedern, als könnte er Bäume ausreissen: Hinaus in die beissende Kälte, rennen, Ski fahren, was auch immer, nichts hält ihn mehr. „Ich will raus, die Welt ist schön, alles ist verschneit und verzuckert, ich gehe weg.“ Der unerwartete Ausbruch scheint der Grossmutter zu gefallen, sie lacht und nickt und ruft: „Wie jung und stark du bist! Wie das mir gefällt!.“ Dieses Mal gibt sie keine Ratschläge, kein Wort über die Kälte, die Gefahren des Winters, die einbrechende Nacht. Sie sagt nur: „Nütze die Zeit – sie gehört dir.“ Die beiden lächeln einander in stummem Einverständnis zu, für einen Augenblick scheint die Zeit still zu stehen. „Ich gehe hinaus in die Kälte “, sagt Moritz, schlüpft in den Mantel und zieht die Kappe über die Ohren. Vor der Tür lässt Moritz einen Jauchzer - eher ein Schrei als eine Melodie - erklingen, bevor er losläuft und in die verschneite Landschaft eintaucht.